D8 Direkte Demokratie

Status:
geändert angenommen

Einleitung und Begriffsdefinitionen
In ihrer extremen Ausführung ist das Prinzip der direkten Demokratie als spezifischer Typus politischer Herrschaft, in dem politische Macht allein und direkt durch die Gesamtheit der abstimmungsberechtigten Bürger*innen und nicht durch einzelne oder wenige Repräsentanten oder Amtsträger verbindlich ausgeübt wird zu sehen, stellt hierbei einen Kontrast zur repräsentativen Demokratie dar. Dagegen steht eine gemäßigteres und realitätsnäheres Konzept, das die direkte Demokratie als politisches Entscheidungsverfahren, bei dem Bürger*innen politisch-inhaltliche Sachfragen auf dem Wege der Volksabstimmung selbstständig und unabhängig von Wahlen entscheiden sieht. Diese wohl vertrautere Ausübung ist nicht das Gegenteil einer repräsentativen Demokratie, sondern integriert konstruierte Entscheidungsverfahren als ergänzende Instrumente politischer Beteiligung in unterschiedlicher Ausgestaltung in eben diese.

Analyse

a) Themensetzung

Bei der Debatte um plebiszitäre Elemente ist die Frage nach der Themensetzung essentiell. Was sind geeignete Themen und welche sind relevant genug, um einen Vorteil aus einem Volksentscheid zu gewinnen? Ein Referendum gilt generell als eine progressive Art der Entscheidungsfindung und viele Menschen erhoffen sich von diesem eine direkte Mitbestimmungsmöglichkeit, die dem schwerfälligen politischen Diskurs moderne Reformen entgegensetzt. Die Erfahrung mit den bisher existierenden direktdemokratischen Systemen, wie etwa in der Schweiz, zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil wird sogar häufig die Reformfähigkeit gebremst. Die Themensetzung ist oft eher von konservativer Art und unterstützt somit eine Abkehr von progressiver Politik und stellt meist auch einen Rückschritt vom Status Quo dar. In der Schweiz zeigt sich dies besonders am Abbau des Sozialstaates und bei Fragen, die gesellschaftliche Minderheiten betreffen. Die Themensetzung dreht sich dabei stark um die Verringerung von Steuern, Einsparungen bei sozialen Maßnahmen und um populistische Zuspitzungen bei Migrationsfragen. Bei dieser eingeschränkten Themensetzung spielen sozialdemokratische Werte oft keine Rolle. Dies hat zur Folge, dass eher neoliberale oder populistische Themen statt Fragen der sozialen Gerechtigkeit diskutiert werden. Es müssten an dieser Stelle Mechanismen im System eingebaut werden, die eine solche Verengung der Themensetzung verhindern und den Fokus mehr darauf legen, wie eine sozialere und gerechtere Gemeinschaft ermöglicht werden kann. Vor allem Probleme und Anliegen ökonomisch Benachteiligter und Minderheiten finden sich häufig nicht in Volksabstimmungen wieder.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Probleme unserer Zeit durch eine enorm hohe Komplexität gekennzeichnet sind. Viele wichtige Themen lassen sich nicht in dem engen Rahmen einer Volksabstimmung behandeln, da in solchen nur zwischen Ja oder Nein entschieden werden kann. Wichtige Sachverhalte würden vereinfacht oder gar rausgelassen werden.
Zu Volksentscheiden werden oft Themen, die gerade kontrovers und auch emotional diskutiert werden, vorgeschlagen. Eine fundierte Entscheidung setzt allerdings einen längeren Willensbildungsprozess und verfügbare Informationen voraus. Dies steht einer schnellen Abstimmung, wie oft gefordert, entgegen. Bei Entscheidungen mitten in der Debatte besteht die Gefahr einer Überlagerung durch Emotionen. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Gestaltungsmöglichkeit politischer Parteien durch die häufige Anwendung von Volksentscheiden auf Bundesebene stark beeinträchtigt wird. Große Themenkomplexe benötigen langfristig angelegte Lösungsansätze und eine auf verschiedenen Ebenen abgestimmte politische Strategie. Werden Volksentscheide zur Regel, besteht für Parteien die Notwendigkeit, permanent Wähler*innen für die jeweils nächste Abstimmung zu mobilisieren. Dies bindet sowohl Personen als auch finanzielle Mittel, die bei der Bearbeitung wichtiger Themen fehlen. Es ist zu befürchten, dass es für Parteien unattraktiv wird, sich langfristigen gesellschaftlichen Projekten zu widmen, da permanent die Gefahr eines negativen Votums droht. Gesellschaftliche Visionen verlieren damit zunehmend an politischer Bedeutung.

b) Kampagnenfähigkeit

Bei Menschen, die von „der Politik“ frustriert sind, findet sich oft die Meinung, Politiker*innen würden nicht die Probleme „des Volkes“ kennen, sondern nur den eigenen Vorteil suchen. Daraus wird abgeleitet, dass eine direkte Demokratie, beispielsweise in Form von Volksentscheidungen auf Bundesebene, die Bürger*innenmeinung reeller vertreten würde. Doch dem ist nicht so. Nimmt man an, es gäbe einen Volksentscheid und man möchte für die eigene Meinung werben, so bräuchte man einerseits eine funktionierende Lobby, die diese Meinung teilt, großflächig unterstützt und dafür wirbt. Andererseits braucht es auch große finanzielle Mittel, um die eigene Werbung sinnvoll und großflächig zu verbreiten. Die Möglichkeit einer solchen Lobby und großer finanzieller Mitteln sind nicht jedem Menschen, der eine Meinung zu dem entsprechenden Thema hat, gegeben. Hier würde nur eine Meinung wirklich groß verbreitet werden: Die Meinung derer, die das Geld haben, um dafür breit zu werben. Das ist ungerecht und entspricht nicht unserer Auffassung einer Gesellschaft, in der jede*r sich zu politischen Themen äußern darf und soll.  Jede Meinung ist dabei gleichwertig und verdient es, gehört zu werden.

Zudem stellt sich das Problem, dass die verfügbare Auswahlmöglichkeit zu politischen Entscheidungen sehr begrenzt wird. Politik ist nicht unbedingt das Durchsetzen der eigenen Meinung, Politik bedeutet auch das Aushandeln von Kompromissen und dadurch das Finden einer Lösung, mit der sowohl Gegner*innen als auch Befürworter*innen der zu fällenden Entscheidung leben können.

Diese Möglichkeit der Kompromissfindung gibt es in der direkten Demokratie nicht. Hier heißt die Antwort entweder Ja oder Nein – für Kompromisse kann es keinen Spielraum geben. So kann Politik nicht funktionieren.

Ein weiteres Problem des fehlenden Kompromisses ist das Nicht-Wahrnehmen von Minderheitenmeinungen. Bei einer Kompromissfindung ist es möglich, durch einige Umlenkungen auch diese zu berücksichtigen. Das kann in der direkten Demokratie nicht mehr funktionieren, da diesen einfach keine Plattform geboten wird.

Auch die Themen, über die entschieden wird, sind in einer direkten Demokratie nur die großen Mehrheitsthemen. Wichtige Themen, die vielleicht nicht die Mehrzahl der Bevölkerung betreffen, aber für eine Minderheit eine extreme Bedeutung besitzen, werden nicht auf die Agenda kommen.

Allgemein finden nur die Themen einen Platz in der öffentlichen Meinungsbildung, deren Vertreter*innen die oben erwähnte Lobby bzw. die finanziellen Mittel besitzen. Über deren Themen wird abgestimmt. Viele Bürger*innen verfügen nicht über die finanziellen Mittel und eine ausreichende Organisationsstruktur, um über direktdemokratische Verfahren angemessen an der Entscheidungsfindung zu partizipieren.

c) Soziale Selektion

Volksentscheide leben von der Wahl für oder gegen eine Entscheidung. Beide Alternativen werden nicht nur von Interessengruppen unterstützt, sondern meist sogar erst von diesen gebildet.
Aufgrund von Unterschieden in Vernetzung, finanzieller Ausstattung und Hintergrundwissen
verfügen diese oft nicht über die gleichen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. Damit einhergehend fällt es diesen Gruppen relativ leicht, politische Themen im Rahmen von Volksentscheiden ihren Interessen entsprechend zu formulieren und die öffentliche Meinung dahin zu beeinflussen. Diese strukturelle Überlegenheit steht im krassen Widerspruch zu dem grundgesetzlich garantierten Recht auf gleiche demokratische Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
Diese Dynamik wird für Gruppen, die über wenig Ressourcen verfügen, zum Problem: Eigene Themen im öffentlichen Diskurs zu setzen, ist damit sehr schwierig. Sich gegen einmal gesetzte Themen bei Volksentscheiden aus dieser Position heraus erfolgreich zur Wehr zu setzen, ist nahezu unmöglich. Gestaltungsmöglichkeiten werden unangemessen stark eingeschränkt. Das Bekenntnis zum Rechtsstaat verpflichtet jedoch zum Minderheitenschutz.

Die zwei Alternativen einer Volksentscheidung stehen sich daher nicht gleichberechtigt gegenüber, vielmehr prädestinieren faktische und soziale Verhältnisse, die lange vor dem Entscheid selbst geschaffen worden sind, ihren Ausgang.

Durch den Einsatz von Finanzen und Lobby verfestigen sich bestehende exklusive Machtstrukturen. Diejenigen, die bereits über Macht verfügen, können diese auf lange Zeit festigen und ausbauen. Wer bislang nicht so großen Einfluss besitzt, hat nur geringe Möglichkeiten, seine*ihre  politische Partizipation zu vergrößern.

d) Legitimationsgrundlage Bürger*innenwillen?

Befürworter*innen der direkten Demokratie führen oft an, dass durch Volksentscheide der Wille der Bürger*innen unverstellt abgebildet werde und einen Gewinn für die demokratische Gesellschaft darstelle. Fraglich ist, ob dies tatsächlich so zutrifft.
Bei der Frage nach der Abbildung des Bürger*innenwillens darf nicht beim Entscheid als solchen stehen geblieben werden, sondern es muss gerade die entscheidende Vorlaufphase genauer betrachtet werden. In dieser Phase der Meinungsbildung versuchen alle Gruppen, Einfluss auf die Bürger*innen im Sinne ihrer Kampagne zu nehmen. Hierbei kommen vor allem die unterschiedlichen strukturellen Ausstattungen zum Tragen: ein Mehr an Finanzen und sozialer Vernetzung ermöglicht eine stärkere Präsenz der entsprechenden Interessengruppe. Im Zeitpunkt der Entscheidung wird der*die Wähler*in im Zweifel zur bekannteren Alternative neigen. Dazu kommt, dass oftmals diejenigen, die der Meinung sind, dass diese Frage sie ohnehin nicht betrifft, sich gar nicht beteiligen. Der Bürger*innenwille wird also bei einem Volksbegehren keineswegs direkt, sondern unter Umständen sogar sehr verzerrt abgebildet.
Auch können Erwägungen außerhalb der Sachfrage eine starke Eigendynamik entfalten. Die Erfahrung zeigt, dass bei Abstimmungen über Projekte im kommunalen Bereich die Bürger*innen grundsätzlich seltener erreicht und mobilisiert werden können. Emotionen, wie Wut und Empörung, motivieren nicht nur zur Teilhabe, sondern beherrschen auch die Diskussion und schließen so sinnvolle Alternativen aus.

Inhaltlich führt die auf Ja oder Nein beschränkte Diskussion in der Sachfrage in der Regel zu weiter gehenden, teils populistisch eingefärbten, Vereinfachungen. Komplexe Zusammenhänge lassen sich, anders als im parlamentarischen Verfahren, nicht in allen Dimensionen darstellen und berücksichtigen. Vor allem, wenn die Stimmung in der Bevölkerung von der Wahrnehmung einer Krisensituation geprägt ist, können sich Positionen durchsetzen, die unter “normalen” Umständen keine Mehrheit finden würden. Dass diese Gefahr real ist, zeigt sich zum Beispiel im Anstieg der Popularität von rechtsextremen und populistischen Positionen ab Sommer 2015, wie es die Mitte-Studie aufzeigt (https://www.boell.de/de/2016/06/15/die-enthemmte-mitte-studie-leipzig).
Neben der gesteigerten Akzeptanz „populistischer“ Ansätze schließt die Sachfrage, die auf nur zwei Lösungen zugeschnitten ist, die Diskussion darüber hinausgehender Lösungsmöglichkeiten aus. In dieser Situation besteht keine Möglichkeit, einen Kompromiss zu erreichen.
Diese Punkte zeigen, dass direktdemokratische Verfahren bei der Abbildung des Wähler*innenwillens besonders zugänglich für sachfremde Gründe (z.B. Emotionen, Populismus oder Verkürzungen) sind. Das Ergebnis vieler Volksentscheide hängt so oftmals von der aktuellen Stimmungslage ab.

e)  Scheinbeteiligung

In der Regel ist der Erfolg von Volksentscheiden von der Aktualität des Themas abhängig. Die Bürger*innen können sich somit aktiv in aktuelle politische Entscheidungen einbringen, auch wenn die nächsten Wahlen erst in mehreren Jahren stattfinden. Dadurch entsteht jedoch eine Scheinbeteiligung der Bürger*innen, da sie zwar über aktuelle Themen abstimmen und so kurzfristige Entscheidungen treffen, nicht aber nachhaltig Politik prägen können. Eine solche Entscheidung kann dann zudem nicht ohne Weiteres nachträglich korrigiert werden, auch wenn dies durch eine  mittel- oder langfristige Veränderung der Situation nötig wäre. Außerdem führt es zu einer Abwertung des Parlaments, wenn aus Volksentscheiden langfristig gültige Gesetze hervorgehen. Könnte hingegen das Parlament Gesetze aus Volksentscheiden jederzeit einschränken, entkräften oder gar rückgängig machen, würde dies endgültig zu einer Scheinbeteiligung führen.

Argumentation

  • “Medien manipulieren die Meinungsbildung der Bürger*innen.” Befürworter*innen von mehr direkter Demokratie argumentieren oft mit einer scheinbaren Manipulation durch Medien. Diese würde angeblich durch mehr direkte Beteiligung an Abstimmungen unterbunden werden. Medien nehmen zwar Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess – das ist sogar auch Teil ihrer Aufgabe – aber dies ist unabhängig von repräsentativen oder direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten. Selbst wenn dieser Einfluss sich zu Manipulation entwickelt, ist auch ein direktdemokratisches Verfahren nicht davor geschützt. Ein Beispiel ist die Propaganda, die die Initiator*innen des Minarettverbots in der Schweiz betrieben haben. Meinungsfindung sollte immer durch Medien begünstigt, nicht geschädigt werden. Mag eine Meinung den persönlichen Präferenzen nicht, der Meinungsfreiheit aber doch, entsprechen, ist sie nicht abzuwerten.
  • „Wir müssen die Demokratie wieder vom Kopf auf die Füße stellen.“ So lässt sich ein weiteres Argument für Volksabstimmungen auf Bundesebene zusammenfassen. Das impliziert, Abgeordnete würden den Willen der Bürger*innen nicht angemessen repräsentieren und deshalb müsste man, um den tatsächlichen Bürger*innenwillen zu ermitteln, immer alle abstimmen lassen. Füße alleine können aber nicht denken. Aus diesem Grund ist eine funktionierende Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und demokratisch gewählten Vertreter*innen zwingend notwendig. Ein Abstimmungsrecht alleine bietet noch keine volle politische Mitbestimmung. Die Beteiligungsmöglichkeiten in unserer Demokratie sind stark ausgeprägt. Ein Mitarbeit in einer Partei beispielsweise bietet dies in größerem Maße, als ein Kreuz bei einem Referendum. Repräsentative Demokratie ist nicht gleichbedeutend mit einem absoluten Repräsentationsanspruch des Staates. Ein*e Abgeordnete*r arbeitet nach seiner*ihrer Wahl nicht frei von Einflüssen aus der Zivilgesellschaft, sondern steht in ständigem Kontakt zu Personen, Organisationen und Interessengruppen aus seinem*ihren Wahlkreis und aus verschiedenen Fachbereichen und Branchen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
  • „Die Macht ist einseitig bei Wirtschaft und Eliten konzentriert. Die Gewaltenteilung funktioniert  nicht mehr. Es braucht die Bürger*innen, um wirkliches Umdenken anzustoßen, neue  Strukturen zu schaffen, alte Institutionen zu reformieren. Es braucht  bei der Gesetzgebung eine Gewaltenteilung zwischen Bürger*innen und Parlamenten.” Auch das hört man oft in konservativen Argumentationen für mehr direkte Demokratie. Doch hier wird zum einen der Begriff der Gewaltenteilung falsch verwendet, denn Gewaltenteilung heißt nicht, dass 82 Millionen Menschen ihren 82-Millionstel-Anteil an Einfluss bekommen. Vielmehr findet in Deutschland eine Gewaltenteilung in Judikative, Legislative und Exekutive statt, die sich gegenseitig kontrollieren. Zum anderen unterstellt dieses Argument den Parlamenten eine fehlende Rückkopplung mit der Bevölkerung. Dagegen wollen wir uns positionieren. Vielmehr halten wir es für sinnvoll, die Zusammenarbeit zwischen Politik und Bürger*innen weiter zu stärken.
  • “Volksentscheide ermöglichen schnelle und einfache Abstimmungen, um viele Meinungen die die Entscheidungsfindung einzubeziehen.” Dies ist ein häufig vorgebrachtes Argument für Volksentscheide. Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt jedoch, dass im Gegenteil derartige Entscheide oft langwierig sind und einer großen Vorbereitungszeit bedürfen. Politik muss aber in manchen Situationen schnell und entschlossen reagieren. Die kurzfristige Reaktionsmöglichkeit der Politik, wie sie etwa bei Banken-Rettungspaketen notwendig ist, wird durch Volksabstimmungen in bestimmten Bereichen stark eingeschränkt.
  • “Durch die Formulierung in einem Volksentscheid wird die Thematik so zusammengefasst, dass sie klar und für alle Bürger*innen verständlich ist.” Befürworter*innen sagen, dass durch diese Reduzierung auf eine Ja-oder-Nein-Entscheidung alle aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden können. Das klingt zunächst einleuchtend und logisch. Dabei bleiben jedoch wichtige Details, wie etwa die Finanzierung oder die genaue Formulierung der Gesetzestexte, ungeklärt. Eine Beteiligung findet daher nur mittelbar statt.
  • “Es ist Zeit, dem eigentlichen Souverän, also dem Volk, mehr Kompetenzen zuzugestehen.” Der  Parlamentarische Rat hat sich allerdings bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes bewusst für eine repräsentative Demokratie entschieden. Auch die Legislative muss in einer Demokratie durch die anderen Gewalten kontrolliert werden. Eine direkte Abstimmung über Gesetze würde diese Kontrollfunktion in Frage stellen. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts könnten mit der Argumentation angegriffen werden, sie würden dem Volkswillen, der in einem Referendum seinen Ausdruck gefunden hat, entgegenstehen.
  • “Regierungen und Abgeordnete sind abgehoben und entscheiden über die Köpfe der Menschen hinweg.” Dem kann man die vielfältigen Möglichkeiten der Beteiligung am politischen System entgegen halten: Politische Gestaltung durch Wahlen auf den verschiedenen Ebenen, Mitarbeit in Parteien oder anderen politischen Organisationen und ein aktiver Umgang mit Politik im Allgemeinen, wie Bürgerdialoge, Kontakt zum jeweiligen Mandatsträger oder Beteiligung an politischer Aufklärung. Aktive Teilnahme am politischen Geschehen kann einen bedeutend größeren Einfluss nehmen, als ein Kreuz auf einem Abstimmungszettel.
  • “Volksentscheide stärken die Demokratie“. Von fehlendem Hintergrundwissen profitieren gerade Populist*innen, indem sie einfache Lösungen anbieten und sich zu Fürsprecher*innen des “Volkes” stilisieren. Genau dadurch besteht die Gefahr, dass sie ihre undifferenzierten Inhalte durchsetzen, denn sie bieten per se einfache Lösungen an und verkürzen sie auf Ja-/Nein-Entscheidungen. Dies geht zum Nachteil einer Vielfalt an Optionen, von denen eine Demokratie lebt. Förderlicher wäre stattdessen der Ausbau bereits bestehender Teilhabemöglichkeiten, z.B. Bürgerdialoge sowie Mitarbeit in der politischen Arbeit und Bildung.
  • “Volks- und Bürgerentscheide funktionieren doch in den Bundesländern auch. Warum also nicht auch auf Bundesebene, wenn auch hiervon Menschen direkt betroffen sind?” Fragen auf Bundesebene zeichnen sich aber im Zweifel durch eine höhere Abstraktheit und Komplexität aus, da eine Vielzahl an Personen, Orten und Sachverhalten davon betroffen ist. Fragen auf Kommunal- und Landesebene sind hingegen meist überschaubar und eignen sich daher besser für die Ja-/Nein-Fragen von Volksentscheiden. Dies ist bei Fragen, die die gesamte Bundesrepublik oder die europäische Politik betreffen nicht der Fall.
  • “Volksentscheide führen dazu, dass sich Bürger*innen wieder stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden fühlen.” Dem ist entgegen zu setzen, dass diese nur ein scheinbares Mehr an Mitbestimmung bieten. Wie oben ausgeführt, besteht die Gefahr einer Scheinbeteiligung sowie Verzerrung des Bürger*innenwillens und einer stark eingeschränkten Themensetzung. Eine Stärkung der demokratischen Kultur und eine Bekämpfung der Politikverdrossenheit ist daher nicht zu erwarten.
  • „Die Bürger*innen sind klüger, als viele Politiker glauben – und sehr wohl in der Lage, Argumente abzuwägen“  Gerade bei komplexen Themen ist eine Einarbeitung von Laien in wenigen Wochen kaum möglich. Eine Abwägung der Argumente und eine Entscheidungsfindung ist so nur erschwert möglich.

Unsere Forderungen

  • Wir lehnen Volksentscheide auf Bundesebene weiterhin ab, auf Landes-/Kommunalebene sind Verbesserungen notwendig.
  • Die Kampagnenfinanzierung bei Volksentscheiden muss transparent gemacht werden. Zudem müssen der Finanzierung Grenzen gesetzt werden, um eine massive Einflussnahme gut finanzierter Interessensgruppen vorzubeugen.
  • Eine gleiche Verteilung der Finanzen muss ein langfristiges Ziel sein, z.B. durch Schaffung eines einheitlichen Finanzierungstopfs oder Festlegung einer maximalen Budgetdifferenz der Gruppen.
  • Politische Bildung, vor allem in Bezug auf Partizipationsmöglichkeiten, muss sowohl in den Lehrplänen als auch in der Erwachsenenbildung verstärkt gefördert werden.
  • Auf Landes- und Kommunalebene fordern wir eine Mindestwahlbeteiligung bei Entscheiden und Auswahlmöglichkeiten, die über Ja und Nein hinausgehen.
  • In Grundrechte und wesentliche Staatsstrukturprinzipien darf durch Volksentscheide nicht eingegriffen werden.
  • Den abstimmungsberechtigten Bürger*innen  müssen vor der Entscheidung ausreichend Informationen zur Verfügung gestellt werden, welche die Breite der Debatte mit den verschiedenen Meinungen wiederspiegeln.

 

Text des Beschlusses:

Einleitung und Begriffsdefinitionen
In ihrer extremen Ausführung ist das Prinzip der direkten Demokratie als spezifischer Typus politischer Herrschaft, in dem politische Macht allein und direkt durch die Gesamtheit der abstimmungsberechtigten Bürger*innen und nicht durch einzelne oder wenige Repräsentanten oder Amtsträger verbindlich ausgeübt wird zu sehen, stellt hierbei einen Kontrast zur repräsentativen Demokratie dar. Dagegen steht eine gemäßigteres und realitätsnäheres Konzept, das die direkte Demokratie als politisches Entscheidungsverfahren, bei dem Bürger*innen politisch-inhaltliche Sachfragen auf dem Wege der Volksabstimmung selbstständig und unabhängig von Wahlen entscheiden sieht. Diese wohl vertrautere Ausübung ist nicht das Gegenteil einer repräsentativen Demokratie, sondern integriert konstruierte Entscheidungsverfahren als ergänzende Instrumente politischer Beteiligung in unterschiedlicher Ausgestaltung in eben diese.

Analyse

  1. a) Themensetzung

Bei der Debatte um plebiszitäre Elemente ist die Frage nach der Themensetzung essentiell. Was sind geeignete Themen und welche sind relevant genug, um einen Vorteil aus einem Volksentscheid zu gewinnen? Ein Referendum gilt generell als eine progressive Art der Entscheidungsfindung und viele Menschen erhoffen sich von diesem eine direkte Mitbestimmungsmöglichkeit, die dem schwerfälligen politischen Diskurs moderne Reformen entgegensetzt. Die Erfahrung mit den bisher existierenden direktdemokratischen Systemen, wie etwa in der Schweiz, zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil wird sogar häufig die Reformfähigkeit gebremst. Die Themensetzung ist oft eher von konservativer Art und unterstützt somit eine Abkehr von progressiver Politik und stellt meist auch einen Rückschritt vom Status Quo dar. In der Schweiz zeigt sich dies besonders am Abbau des Sozialstaates und bei Fragen, die gesellschaftliche Minderheiten betreffen. Die Themensetzung dreht sich dabei stark um die Verringerung von Steuern, Einsparungen bei sozialen Maßnahmen und um populistische Zuspitzungen bei Migrationsfragen. Bei dieser eingeschränkten Themensetzung spielen sozialdemokratische Werte oft keine Rolle. Dies hat zur Folge, dass eher neoliberale oder populistische Themen statt Fragen der sozialen Gerechtigkeit diskutiert werden. Es müssten an dieser Stelle Mechanismen im System eingebaut werden, die eine solche Verengung der Themensetzung verhindern und den Fokus mehr darauf legen, wie eine sozialere und gerechtere Gemeinschaft ermöglicht werden kann. Vor allem Probleme und Anliegen ökonomisch Benachteiligter und Minderheiten finden sich häufig nicht in Volksabstimmungen wieder.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Probleme unserer Zeit durch eine enorm hohe Komplexität gekennzeichnet sind. Viele wichtige Themen lassen sich nicht in dem engen Rahmen einer Volksabstimmung behandeln, da in solchen nur zwischen Ja oder Nein entschieden werden kann. Wichtige Sachverhalte würden vereinfacht oder gar rausgelassen werden.
Zu Volksentscheiden werden oft Themen, die gerade kontrovers und auch emotional diskutiert werden, vorgeschlagen. Eine fundierte Entscheidung setzt allerdings einen längeren Willensbildungsprozess und verfügbare Informationen voraus. Dies steht einer schnellen Abstimmung, wie oft gefordert, entgegen. Bei Entscheidungen mitten in der Debatte besteht die Gefahr einer Überlagerung durch Emotionen. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Gestaltungsmöglichkeit politischer Parteien durch die häufige Anwendung von Volksentscheiden auf Bundesebene stark beeinträchtigt wird. Große Themenkomplexe benötigen langfristig angelegte Lösungsansätze und eine auf verschiedenen Ebenen abgestimmte politische Strategie. Werden Volksentscheide zur Regel, besteht für Parteien die Notwendigkeit, permanent Wähler*innen für die jeweils nächste Abstimmung zu mobilisieren. Dies bindet sowohl Personen als auch finanzielle Mittel, die bei der Bearbeitung wichtiger Themen fehlen. Es ist zu befürchten, dass es für Parteien unattraktiv wird, sich langfristigen gesellschaftlichen Projekten zu widmen, da permanent die Gefahr eines negativen Votums droht. Gesellschaftliche Visionen verlieren damit zunehmend an politischer Bedeutung.

  1. b) Kampagnenfähigkeit

Bei Menschen, die von „der Politik“ frustriert sind, findet sich oft die Meinung, Politiker*innen würden nicht die Probleme „des Volkes“ kennen, sondern nur den eigenen Vorteil suchen. Daraus wird abgeleitet, dass eine direkte Demokratie, beispielsweise in Form von Volksentscheidungen auf Bundesebene, die Bürger*innenmeinung reeller vertreten würde. Doch dem ist nicht so. Nimmt man an, es gäbe einen Volksentscheid und man möchte für die eigene Meinung werben, so bräuchte man einerseits eine funktionierende Lobby, die diese Meinung teilt, großflächig unterstützt und dafür wirbt. Andererseits braucht es auch große finanzielle Mittel, um die eigene Werbung sinnvoll und großflächig zu verbreiten. Die Möglichkeit einer solchen Lobby und großer finanzieller Mitteln sind nicht jedem Menschen, der eine Meinung zu dem entsprechenden Thema hat, gegeben. Hier würde nur eine Meinung wirklich groß verbreitet werden: Die Meinung derer, die das Geld haben, um dafür breit zu werben. Das ist ungerecht und entspricht nicht unserer Auffassung einer Gesellschaft, in der jede*r sich zu politischen Themen äußern darf und soll. Jede Meinung ist dabei gleichwertig und verdient es, gehört zu werden.

Zudem stellt sich das Problem, dass die verfügbare Auswahlmöglichkeit zu politischen Entscheidungen sehr begrenzt wird. Politik ist nicht unbedingt das Durchsetzen der eigenen Meinung, Politik bedeutet auch das Aushandeln von Kompromissen und dadurch das Finden einer Lösung, mit der sowohl Gegner*innen als auch Befürworter*innen der zu fällenden Entscheidung leben können.

Diese Möglichkeit der Kompromissfindung gibt es in der direkten Demokratie nicht. Hier heißt die Antwort entweder Ja oder Nein – für Kompromisse kann es keinen Spielraum geben. So kann Politik nicht funktionieren.

Ein weiteres Problem des fehlenden Kompromisses ist das Nicht-Wahrnehmen von Minderheitenmeinungen. Bei einer Kompromissfindung ist es möglich, durch einige Umlenkungen auch diese zu berücksichtigen. Das kann in der direkten Demokratie nicht mehr funktionieren, da diesen einfach keine Plattform geboten wird.

Auch die Themen, über die entschieden wird, sind in einer direkten Demokratie nur die großen Mehrheitsthemen. Wichtige Themen, die vielleicht nicht die Mehrzahl der Bevölkerung betreffen, aber für eine Minderheit eine extreme Bedeutung besitzen, werden nicht auf die Agenda kommen.

Allgemein finden nur die Themen einen Platz in der öffentlichen Meinungsbildung, deren Vertreter*innen die oben erwähnte Lobby bzw. die finanziellen Mittel besitzen. Über deren Themen wird abgestimmt. Viele Bürger*innen verfügen nicht über die finanziellen Mittel und eine ausreichende Organisationsstruktur, um über direktdemokratische Verfahren angemessen an der Entscheidungsfindung zu partizipieren.

  1. c) Soziale Selektion

Volksentscheide leben von der Wahl für oder gegen eine Entscheidung. Beide Alternativen werden nicht nur von Interessengruppen unterstützt, sondern meist sogar erst von diesen gebildet.
Aufgrund von Unterschieden in Vernetzung, finanzieller Ausstattung und Hintergrundwissen
verfügen diese oft nicht über die gleichen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. Damit einhergehend fällt es diesen Gruppen relativ leicht, politische Themen im Rahmen von Volksentscheiden ihren Interessen entsprechend zu formulieren und die öffentliche Meinung dahin zu beeinflussen. Diese strukturelle Überlegenheit steht im krassen Widerspruch zu dem grundgesetzlich garantierten Recht auf gleiche demokratische Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
Diese Dynamik wird für Gruppen, die über wenig Ressourcen verfügen, zum Problem: Eigene Themen im öffentlichen Diskurs zu setzen, ist damit sehr schwierig. Sich gegen einmal gesetzte Themen bei Volksentscheiden aus dieser Position heraus erfolgreich zur Wehr zu setzen, ist nahezu unmöglich. Gestaltungsmöglichkeiten werden unangemessen stark eingeschränkt. Das Bekenntnis zum Rechtsstaat verpflichtet jedoch zum Minderheitenschutz.

Die zwei Alternativen einer Volksentscheidung stehen sich daher nicht gleichberechtigt gegenüber, vielmehr prädestinieren faktische und soziale Verhältnisse, die lange vor dem Entscheid selbst geschaffen worden sind, ihren Ausgang.

Durch den Einsatz von Finanzen und Lobby verfestigen sich bestehende exklusive Machtstrukturen. Diejenigen, die bereits über Macht verfügen, können diese auf lange Zeit festigen und ausbauen. Wer bislang nicht so großen Einfluss besitzt, hat nur geringe Möglichkeiten, seine*ihre politische Partizipation zu vergrößern.

  1. d) Legitimationsgrundlage Bürger*innenwillen?

Befürworter*innen der direkten Demokratie führen oft an, dass durch Volksentscheide der Wille der Bürger*innen unverstellt abgebildet werde und einen Gewinn für die demokratische Gesellschaft darstelle. Fraglich ist, ob dies tatsächlich so zutrifft.
Bei der Frage nach der Abbildung des Bürger*innenwillens darf nicht beim Entscheid als solchen stehen geblieben werden, sondern es muss gerade die entscheidende Vorlaufphase genauer betrachtet werden. In dieser Phase der Meinungsbildung versuchen alle Gruppen, Einfluss auf die Bürger*innen im Sinne ihrer Kampagne zu nehmen. Hierbei kommen vor allem die unterschiedlichen strukturellen Ausstattungen zum Tragen: ein Mehr an Finanzen und sozialer Vernetzung ermöglicht eine stärkere Präsenz der entsprechenden Interessengruppe. Im Zeitpunkt der Entscheidung wird der*die Wähler*in im Zweifel zur bekannteren Alternative neigen. Dazu kommt, dass oftmals diejenigen, die der Meinung sind, dass diese Frage sie ohnehin nicht betrifft, sich gar nicht beteiligen. Der Bürger*innenwille wird also bei einem Volksbegehren keineswegs direkt, sondern unter Umständen sogar sehr verzerrt abgebildet.
Auch können Erwägungen außerhalb der Sachfrage eine starke Eigendynamik entfalten. Die Erfahrung zeigt, dass bei Abstimmungen über Projekte im kommunalen Bereich die Bürger*innen grundsätzlich seltener erreicht und mobilisiert werden können. Emotionen, wie Wut und Empörung, motivieren nicht nur zur Teilhabe, sondern beherrschen auch die Diskussion und schließen so sinnvolle Alternativen aus.

Inhaltlich führt die auf Ja oder Nein beschränkte Diskussion in der Sachfrage in der Regel zu weiter gehenden, teils populistisch eingefärbten, Vereinfachungen. Komplexe Zusammenhänge lassen sich, anders als im parlamentarischen Verfahren, nicht in allen Dimensionen darstellen und berücksichtigen. Vor allem, wenn die Stimmung in der Bevölkerung von der Wahrnehmung einer Krisensituation geprägt ist, können sich Positionen durchsetzen, die unter “normalen” Umständen keine Mehrheit finden würden. Dass diese Gefahr real ist, zeigt sich zum Beispiel im Anstieg der Popularität von rechtsextremen und populistischen Positionen ab Sommer 2015, wie es die Mitte-Studie aufzeigt (https://www.boell.de/de/2016/06/15/die-enthemmte-mitte-studie-leipzig).
Neben der gesteigerten Akzeptanz „populistischer“ Ansätze schließt die Sachfrage, die auf nur zwei Lösungen zugeschnitten ist, die Diskussion darüber hinausgehender Lösungsmöglichkeiten aus. In dieser Situation besteht keine Möglichkeit, einen Kompromiss zu erreichen.
Diese Punkte zeigen, dass direktdemokratische Verfahren bei der Abbildung des Wähler*innenwillens besonders zugänglich für sachfremde Gründe (z.B. Emotionen, Populismus oder Verkürzungen) sind. Das Ergebnis vieler Volksentscheide hängt so oftmals von der aktuellen Stimmungslage ab.

  1. e) Scheinbeteiligung

In der Regel ist der Erfolg von Volksentscheiden von der Aktualität des Themas abhängig. Die Bürger*innen können sich somit aktiv in aktuelle politische Entscheidungen einbringen, auch wenn die nächsten Wahlen erst in mehreren Jahren stattfinden. Dadurch entsteht jedoch eine Scheinbeteiligung der Bürger*innen, da sie zwar über aktuelle Themen abstimmen und so kurzfristige Entscheidungen treffen, nicht aber nachhaltig Politik prägen können. Eine solche Entscheidung kann dann zudem nicht ohne Weiteres nachträglich korrigiert werden, auch wenn dies durch eine mittel- oder langfristige Veränderung der Situation nötig wäre. Außerdem führt es zu einer Abwertung des Parlaments, wenn aus Volksentscheiden langfristig gültige Gesetze hervorgehen. Könnte hingegen das Parlament Gesetze aus Volksentscheiden jederzeit einschränken, entkräften oder gar rückgängig machen, würde dies endgültig zu einer Scheinbeteiligung führen.

Argumentation

  • “Medien manipulieren die Meinungsbildung der Bürger*innen.” Befürworter*innen von mehr direkter Demokratie argumentieren oft mit einer scheinbaren Manipulation durch Medien. Diese würde angeblich durch mehr direkte Beteiligung an Abstimmungen unterbunden werden. Medien nehmen zwar Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess – das ist sogar auch Teil ihrer Aufgabe – aber dies ist unabhängig von repräsentativen oder direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten. Selbst wenn dieser Einfluss sich zu Manipulation entwickelt, ist auch ein direktdemokratisches Verfahren nicht davor geschützt. Ein Beispiel ist die Propaganda, die die Initiator*innen des Minarettverbots in der Schweiz betrieben haben. Meinungsfindung sollte immer durch Medien begünstigt, nicht geschädigt werden. Mag eine Meinung den persönlichen Präferenzen nicht, der Meinungsfreiheit aber doch, entsprechen, ist sie nicht abzuwerten.
  • „Wir müssen die Demokratie wieder vom Kopf auf die Füße stellen.“ So lässt sich ein weiteres Argument für Volksabstimmungen auf Bundesebene zusammenfassen. Das impliziert, Abgeordnete würden den Willen der Bürger*innen nicht angemessen repräsentieren und deshalb müsste man, um den tatsächlichen Bürger*innenwillen zu ermitteln, immer alle abstimmen lassen. Füße alleine können aber nicht denken. Aus diesem Grund ist eine funktionierende Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und demokratisch gewählten Vertreter*innen zwingend notwendig. Ein Abstimmungsrecht alleine bietet noch keine volle politische Mitbestimmung. Die Beteiligungsmöglichkeiten in unserer Demokratie sind stark ausgeprägt. Ein Mitarbeit in einer Partei beispielsweise bietet dies in größerem Maße, als ein Kreuz bei einem Referendum. Repräsentative Demokratie ist nicht gleichbedeutend mit einem absoluten Repräsentationsanspruch des Staates. Ein*e Abgeordnete*r arbeitet nach seiner*ihrer Wahl nicht frei von Einflüssen aus der Zivilgesellschaft, sondern steht in ständigem Kontakt zu Personen, Organisationen und Interessengruppen aus seinem*ihren Wahlkreis und aus verschiedenen Fachbereichen und Branchen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.
  • „Die Macht ist einseitig bei Wirtschaft und Eliten konzentriert. Die Gewaltenteilung funktioniert nicht mehr. Es braucht die Bürger*innen, um wirkliches Umdenken anzustoßen, neue Strukturen zu schaffen, alte Institutionen zu reformieren. Es braucht bei der Gesetzgebung eine Gewaltenteilung zwischen Bürger*innen und Parlamenten.” Auch das hört man oft in konservativen Argumentationen für mehr direkte Demokratie. Doch hier wird zum einen der Begriff der Gewaltenteilung falsch verwendet, denn Gewaltenteilung heißt nicht, dass 82 Millionen Menschen ihren 82-Millionstel-Anteil an Einfluss bekommen. Vielmehr findet in Deutschland eine Gewaltenteilung in Judikative, Legislative und Exekutive statt, die sich gegenseitig kontrollieren. Zum anderen unterstellt dieses Argument den Parlamenten eine fehlende Rückkopplung mit der Bevölkerung. Dagegen wollen wir uns positionieren. Vielmehr halten wir es für sinnvoll, die Zusammenarbeit zwischen Politik und Bürger*innen weiter zu stärken.
  • “Volksentscheide ermöglichen schnelle und einfache Abstimmungen, um viele Meinungen die die Entscheidungsfindung einzubeziehen.” Dies ist ein häufig vorgebrachtes Argument für Volksentscheide. Das Beispiel Stuttgart 21 zeigt jedoch, dass im Gegenteil derartige Entscheide oft langwierig sind und einer großen Vorbereitungszeit bedürfen. Politik muss aber in manchen Situationen schnell und entschlossen reagieren. Die kurzfristige Reaktionsmöglichkeit der Politik, wie sie etwa bei Banken-Rettungspaketen notwendig ist, wird durch Volksabstimmungen in bestimmten Bereichen stark eingeschränkt.
  • “Durch die Formulierung in einem Volksentscheid wird die Thematik so zusammengefasst, dass sie klar und für alle Bürger*innen verständlich ist.” Befürworter*innen sagen, dass durch diese Reduzierung auf eine Ja-oder-Nein-Entscheidung alle aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden können. Das klingt zunächst einleuchtend und logisch. Dabei bleiben jedoch wichtige Details, wie etwa die Finanzierung oder die genaue Formulierung der Gesetzestexte, ungeklärt. Eine Beteiligung findet daher nur mittelbar statt.
  • “Es ist Zeit, dem eigentlichen Souverän, also dem Volk, mehr Kompetenzen zuzugestehen.” Der Parlamentarische Rat hat sich allerdings bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes bewusst für eine repräsentative Demokratie entschieden. Auch die Legislative muss in einer Demokratie durch die anderen Gewalten kontrolliert werden. Eine direkte Abstimmung über Gesetze würde diese Kontrollfunktion in Frage stellen. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts könnten mit der Argumentation angegriffen werden, sie würden dem Volkswillen, der in einem Referendum seinen Ausdruck gefunden hat, entgegenstehen.
  • “Regierungen und Abgeordnete sind abgehoben und entscheiden über die Köpfe der Menschen hinweg.” Dem kann man die vielfältigen Möglichkeiten der Beteiligung am politischen System entgegen halten: Politische Gestaltung durch Wahlen auf den verschiedenen Ebenen, Mitarbeit in Parteien oder anderen politischen Organisationen und ein aktiver Umgang mit Politik im Allgemeinen, wie Bürgerdialoge, Kontakt zum jeweiligen Mandatsträger oder Beteiligung an politischer Aufklärung. Aktive Teilnahme am politischen Geschehen kann einen bedeutend größeren Einfluss nehmen, als ein Kreuz auf einem Abstimmungszettel.
  • “Volksentscheide stärken die Demokratie“. Von fehlendem Hintergrundwissen profitieren gerade Populist*innen, indem sie einfache Lösungen anbieten und sich zu Fürsprecher*innen des “Volkes” stilisieren. Genau dadurch besteht die Gefahr, dass sie ihre undifferenzierten Inhalte durchsetzen, denn sie bieten per se einfache Lösungen an und verkürzen sie auf Ja-/Nein-Entscheidungen. Dies geht zum Nachteil einer Vielfalt an Optionen, von denen eine Demokratie lebt. Förderlicher wäre stattdessen der Ausbau bereits bestehender Teilhabemöglichkeiten, z.B. Bürgerdialoge sowie Mitarbeit in der politischen Arbeit und Bildung.
  • “Volks- und Bürgerentscheide funktionieren doch in den Bundesländern auch. Warum also nicht auch auf Bundesebene, wenn auch hiervon Menschen direkt betroffen sind?” Fragen auf Bundesebene zeichnen sich aber im Zweifel durch eine höhere Abstraktheit und Komplexität aus, da eine Vielzahl an Personen, Orten und Sachverhalten davon betroffen ist. Fragen auf Kommunal- und Landesebene sind hingegen meist überschaubar und eignen sich daher besser für die Ja-/Nein-Fragen von Volksentscheiden. Dies ist bei Fragen, die die gesamte Bundesrepublik oder die europäische Politik betreffen nicht der Fall.
  • “Volksentscheide führen dazu, dass sich Bürger*innen wieder stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden fühlen.” Dem ist entgegen zu setzen, dass diese nur ein scheinbares Mehr an Mitbestimmung bieten. Wie oben ausgeführt, besteht die Gefahr einer Scheinbeteiligung sowie Verzerrung des Bürger*innenwillens und einer stark eingeschränkten Themensetzung. Eine Stärkung der demokratischen Kultur und eine Bekämpfung der Politikverdrossenheit ist daher nicht zu erwarten.
  • „Die Bürger*innen sind klüger, als viele Politiker glauben – und sehr wohl in der Lage, Argumente abzuwägen“ Gerade bei komplexen Themen ist eine Einarbeitung von Laien in wenigen Wochen kaum möglich. Eine Abwägung der Argumente und eine Entscheidungsfindung ist so nur erschwert möglich.

Unsere Forderungen

  • Wir lehnen Volksentscheide auf Bundesebene weiterhin ab, auf Landes-/Kommunalebene sind Verbesserungen notwendig.
  • Die Kampagnenfinanzierung bei Volksentscheiden muss transparent gemacht werden. Zudem müssen der Finanzierung Grenzen gesetzt werden, um eine massive Einflussnahme gut finanzierter Interessensgruppen vorzubeugen.
  • Eine gleiche Verteilung der Finanzen muss ein langfristiges Ziel sein, z.B. durch Schaffung eines einheitlichen Finanzierungstopfs oder Festlegung einer maximalen Budgetdifferenz der Gruppen.
  • Politische Bildung, vor allem in Bezug auf Partizipationsmöglichkeiten, muss sowohl in den Lehrplänen als auch in der Erwachsenenbildung verstärkt gefördert werden.
  • Auf Landes- und Kommunalebene fordern wir eine Mindestwahlbeteiligung bei Entscheiden
  • In Grundrechte und wesentliche Staatsstrukturprinzipien darf durch Volksentscheide nicht eingegriffen werden.
  • Den abstimmungsberechtigten Bürger*innen müssen vor der Entscheidung ausreichend Informationen zur Verfügung gestellt werden, welche die Breite der Debatte mit den verschiedenen Meinungen wiederspiegeln.
Beschluss-PDF: